Statt wie gestern angekündigt die verschiedenen Funktionen der 6 Hüte aufzulisten (kommt noch nach!), möchte ich an diesem wunderschönen Morgen eine kurze Hintergrundbetrachtung zu dieser Methode anstellen. Dazu zunächst ein Zitat:
„Ein Genie sieht da 10 Dinge, wo andere nur eines sehen.“
(von Ezra Pound: * 30. Oktober 1885 in Hailey, Idaho; † 1. November 1972 in Venedig, war ein amerikanischer Dichter. Mit T. S. Eliot gilt er als bedeutendster Lyriker der englischsprachigen Moderne.)
Verschiedene Perspektiven
Hier ist die Fähigkeit, genauer vielleicht die Bereitschaft, angesprochen nach alternativen Betrachtungsweisen zu suchen. In diesem Sinne ist Kreativität das Vermögen bewußt und gezielt verschiedene Perspektiven einnehmen zu können. Der 6 Hüte Prozess ist so gesehen das Metawerkzeug der Kreativität.
Jede mir bekannte Kreativitätstechnik bricht mit den uns vertrauten Wahrnehmungsmustern und hält uns an, immer noch eine zusätzliche (alternative!) Sicht auf die Dinge zuzulassen. Der kreative Prozess kann also auch in hohem Maße verstörend sein, da er implizit jede Hoffnung hat fahren lassen die eine richtige Beschreibung bzw. die eine richtige Wahrnehmung finden zu können.
Der Zusammenhang zwischen Kreativität und Konflikt
Interessanterweise gibt es nun einen inneren Zusammenhang zwischen dem Thema Kreativität und dem Thema Konflikt.
Sehen wir uns kurz die Ursachen für viele Konflikte an: Die Konfliktparteien verfügen über Wahrnehmungen und Beschreibungen der Situation, die die jeweils andere Partei nicht teilen kann oder will. Von außen betrachtet sind häufig beide Sichtweisen relativ leicht nachzuvollziehen. Diese Haltung einzunehmen bedeutet auch, sich über die unserer Welt offenbar zutiefst innewohnende konflikthafte Natur hinaus zu erheben, und von dieser „überpersönlichen“ Ebene aus als „Übersetzer“ tätig zu werden. Der Berufsstand der Mediatoren und Konfliktvermittler greift auf diese Fähigkeit zurück.
Versuchen wir einen Konflikt auf der Ebene zu lösen, auf dem er entstand, betonen wir unter Umständen nur wieder die Unterschiede, die ja gerade zum Konflikt geführt haben. Jeder Mediator hat es schon oft erfahren: Jedem Konflikt ist auch eine überpersönliche Natur inne: Unsere multiperspektivische Welt fordert den Konflikt gerade zu heraus, ist potenzieller Konflikt. Diese Differenz liegt offenbar in der Natur der Wirklichkeit selbst begründet – in ihrer immer möglichen Vieldeutigkeit, gleichsam in der Abwesenheit von Eindeutigkeit in ihr.
Der Konflikt bezieht seine Kraft vor allem daraus, dass die Konfliktparteien beschließen auf ihrer jeweiligen Sicht der Dinge zu beharren. Wechseln sie auf die überpersönliche Ebene (also die „Übersetzer“-Perspektive) wird schnell klar, dass beide Blickwinkel für sich gesehen angemessen und in den meisten Fällen leicht nachvollziehbar sind.
Den Kuchen vergrößern
Sich die Fähigkeit anzueignen Perspektiven zu wechseln – und es ist in der Tat ein Prozess der Übung! – gehört somit in einer Welt der multiplen Bedeutungsebenen vielleicht zu den zentralen Fertigkeiten eines Menschen, der sich den Herausforderungen einer zunehmend komplexer erscheinenden Welt würdevoll zu stellen versucht.
Kreativität ist also nicht zuletzt auch ein Werkzeug zur Konfliktlösung. Sieht man sich erfolgreiche Verhandler und Vermittler an, zeigen sie sich vor allem durch ihre Kreativität im Finden von zusätzlichen Optionen aus. Damit wird der in der Verhandlung bzw. im Konflikt zur Verfügung stehende Kuchen erweitert. Es werden Schnittmengen sichtbar, die vorher unsichtbar waren.
So können wir alle im Sinne des eingangs angeführten Zitats von Ezra Pound zu Genies werden – indem wir uns einfach die Zeit nehmen immer auch nach alternativen Betrachtungsweisen Ausschau zu halten.